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Interview mit Prof. Ignacio Serrano del Pozo: Die "Kultur des Missbrauchs" durch das Konzept der "Atmosphäre" neu verstehen

Sehr geehrter Professor Ignacio Serrano del Pozo, erzählen Sie uns doch ein wenig über sich, Ihre Forschungsinteressen und Ihr aktuelles Projekt?

Mein Hintergrund ist die klassische Philosophie, vor allem Aristoteles und Thomas von Aquin. Nach meiner Promotion in Philosophie an der Universität von Navarra habe ich mich auf Fragen der moralischen Erziehung und Charakterbildung konzentriert.

Im Jahr 2013 absolvierte ich ein Postdoc in Edinburgh über den schottischen Denker Alasdair MacIntyre. Seine Vision der Geschichte der Moral führte mich zu Fragen der Religionssoziologie, insbesondere zu Max Weber und seiner Säkularisierungstheorie.

Außerdem habe ich mich aus persönlichen Gründen für das Problem der Missbrauchskrise in der katholischen Kirche interessiert. Normalerweise ist dies ein Thema, das von der Psychologie des sexuellen Missbrauchs oder der Theologie der Macht aus untersucht wird, aber den sozio-religiösen Elementen des spirituellen Missbrauchs wurde wenig Aufmerksamkeit geschenkt. Für mich war es sehr wichtig, über einen angemessenen theoretischen Rahmen zu verfügen, um spirituellen Missbrauch zu verstehen, der über die typischen Theorien über kontrollierende Führung oder Klerikalismus als Hauptfaktor der Perversion der Macht hinausgeht.

So kam ich auf die Idee der "Atmosphäre" oder des "Gefühlsraums", die von Autoren wie Hermán Schmitz, Tonino Griffero und Martin Radermacher entwickelt wurde.  Die Kategorie der Atmosphäre und die Macht der Atmosphären schien mir ein hervorragender Rahmen zu sein, um den Druck oder die Macht zu erklären, die von einer toxischen oder kontaminierten Umgebung ausgeübt werden kann, die Opfer und Täter umgibt und die den Missbrauch fördert und festigt.

Warum haben Sie das CERES als Gastgeber für Ihren Forschungsaufenthalt gewählt?

In Chile, wo ich herkomme und lebe, entdeckte ich ein sehr spannendes Paper von Professor Martin Radermacher über die Kategorie Atmosphäre und ihr Potenzial in der Religionswissenschaft jenseits der Metapher: "Religion und Atmosphäre: Überlegungen zum Potenzial sozial-räumlicher Arrangements in religiösen Situationen" (2020).  Danach habe ich ein weiteres Werk von ihm gelesen, welches sich mit der charismatischen Kraft von Objekten befasst und mir geholfen hat, die unterwerfende Kraft zu verstehen, die eine Heilsgeschichte innerhalb einer religiösen Gemeinschaft ausüben kann, oder die Autorität, die ein frommes Gebet haben kann: "Vom 'Fetisch' zur 'Aura': Das Charisma von Objekten?" (2019).  Als ich nach Professor Martin Radermachers Zugehörigkeit googelte, stieß ich auf das CERES (Centrum für Religionswissenschaftliche Studien). Ich entdeckte einen soziologischen Ansatz, der meine bisherige normativ-philosophische Ausbildung wunderbar ergänzen konnte.

Was nehmen Sie mit nach Hause - in Form von Daten/Quellen oder neuen Ideen und Perspektiven?

Neben der Erfahrung, eine Region wie Nordrhein-Westfalen besucht zu haben und mit meiner Familie einen kulturellen Austausch in einer Stadt wie Bochum erlebt zu haben, an dem wir Orte wie das Planetarium, das Bergbau-Museum, das Stadion und die Parks genießen konnten, nehme ich vor allem sehr hilfreiche qualitative Methoden für die Arbeit mit sprachlichen oder ikonischen Daten mit. Eine davon ist die objektive Hermeneutik (HO) von Ulrich Oevermann, ein Ansatz, der in Lateinamerika noch nicht erforscht wurde und der eine rigorose Analyse von Bildern und Diskursen ermöglicht. Die andere ist die Akteur-Netzwerk-Theorie (ANT) von Bruno Latour, ein Ansatz, der es erlaubt, eine Situation wie den Missbrauch zu erklären, indem er nicht nur die menschliche Figur des Täters und des Opfers berücksichtigt, sondern vielmehr eine komplexe Kombination verschiedener Faktoren. Diese Methoden haben es mir ermöglicht, mich auf die nicht-menschlichen Akteure zu konzentrieren, die an dieser problematischen Situation beteiligt sind, und das Gewicht zu beschreiben, das ein bestimmtes Ritual oder die Autorität eines verehrten Symbols hat.

Herzlichen Dank für das Interview, Herr Prof. del Pozo!