Religionswissenschaft ist keine Theologie

Religionswissenschaft ist die Wissenschaft von der Religion bzw. den Religionen. Sie erforscht die Religionen der Welt in ihren kulturellen, sozialen und historischen Zusammenhängen. Neben dem Studium kulturspezifischer Entwicklungen widmet sie sich der systematischen Erforschung von Religion als allgemeinem Bestandteil gesellschaftlicher Kommunikation und Kulturproduktion. Religion wird hierbei in ihren Wechselwirkungen mit anderen kulturellen Bereichen wie Politik, Wirtschaft, Recht, Ökonomie, Kunst usw. betrachtet.

Wichtig ist, dass Religion der Gegenstand der Religionswissenschaft und nicht ihr Inhalt ist. In der Religionswissenschaft werden wissenschaftlich, d. h. methodisch kontrolliert religiöse Sachverhalte analysiert und theoretisch reflektiert. Aber Religionswissenschaft ist keine Religion und sie ist auch keine Theologie! In unserer Rolle als Religionswissenschaftler/innen sind wir religiöse Skeptiker oder Agnostiker. Wenn wir in die wissenschaftliche Rolle hineinschlüpfen, spielen auch persönliche Glaubensbekenntnisse keine Rolle mehr. Wir streiten uns nicht über Fragen, ob es Gott oder die Götter etc. nun wirklich gibt oder nicht. Der Sachverhalt, mit dem wir uns beschäftigen, ist die Tatsache, dass Menschen an Gott oder ähnliches glauben oder eben nicht glauben. Das Phänomen des Glaubens kann einen Unterschied im Leben des Einzelnen und in der Gesellschaft machen, besonders in der Hinsicht, dass dadurch Verhaltensmuster erzeugt sowie Wahrnehmungen und schließlich Denkweisen geprägt werden. Religion kann mithin eine gesellschaftsprägende Kraft haben. Folgt man beispielsweise der Argumentation des Religionssoziologen Max Weber, so waren es mithin religiöse Überzeugungen, die die Entstehung des Kapitalismus herbeigeführt haben.

Um es kurz zu machen: Die Religionswissenschaft beschäftigt sich mit der Religion als einer sozialen und psychologischen Tatsache. Und es ist eine soziale und psychologische Tatsache, dass Menschen an Geister, Götter, Dämonen und Engel glauben oder geglaubt haben und Praktiken zur Kommunikation mit diesen Mächten entwickelt haben. Religion als sozialpsychologische Tatsache lässt sich unabhängig von der Frage untersuchen, ob es Geister, Götter, Dämonen oder Engel nun wirklich gibt oder nicht. Wer als Religionswissenschaftler/in meint, die Existenz von Geistern, Göttern und Dämonen beweisen oder widerlegen zu können, hat die Wissenschaft mit ihrem Gegenstand verwechselt. Die Aussagen „es gibt Gott“ oder „es gibt keinen Gott“ sind religiöse bzw. weltanschaulicher Aussagen, keine religionswissenschaftlichen. Deshalb ist ein sogenannter methodologischer Agnostizismus grundlegend für das Fach. 

Dies soll wiederum nicht heißen, dass Religionswissenschaftler/innen agnostisch sind oder sich nur Agnostiker:innen als Religionswissenschaftler/innen eignen. Viele Religionswissenschaftler/innen sind selbst sehr religiöse Menschen. Auch unter den Studierenden mögen zahlreiche Personen sehr religiös oder, was in dieser Frage auf dasselbe hinausläuft, entschieden antireligiös sein. Aber religiöse Überzeugungen sollten in dem Moment, in dem die religionswissenschaftliche Brille aufgesetzt wird, keine Rolle spielen. Religionswissenschaft als soziale Praxis setzt entsprechend einen persönlichen Differenzierungsvorgang voraus. Als Mensch und im Alltag können Sie religiös, anti-religiös oder eben nicht religiös sein. Aber wenn Sie in die Rolle des/der Religionswissenschaftler:in schlüpfen, dürfen Sie in diesem Moment nicht religiös sein.